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„Agenda 2010“ oder „Warum ich die SPD verließ“

Im Jahr 2003 hat die Agenda 2010 einen breiten Raum in der politischen Diskussion in Deutschland eingenommen. Grund genug, dass ich mich intensiver damit beschäftigt habe. Das Ergebnis war dann, dass ich nach über 13 Jahren Mitgliedschaft die SPD verlassen habe. Mit diesem Papier, was auf dem Parteitag der SPD im Mai 2003 mit überwältigender Mehrheit beschlossen wurde, hat die SPD deutlich gemacht, dass sie nicht mehr die Partei ist, in die ich im Februar 1990 eingetreten bin.
Als ich 1990 der Partei beitrat, war die Partei noch geprägt von Willi Brandt und spielten Begriffe wie soziale Gerechtigkeit noch eine entscheidende Rolle.
Die Agenda 2010 ist weder sozial noch gerecht. An einigen Bespielen will ich dass verdeutlichen:

Mehr Jobs
In der Bundesrepublik stehen einem Heer von 4,5 Mio. Arbeitslosen ca. 0,5 Mio. Mio. offene Stellen gegenüber. Die Zahlen mögen nicht genau sein, aber die Größenordnung stimmt. Es könnte also beim allerbesten Willen jeder 9. Arbeitslose einen Job finden. Da fällt der SPD nichts besseres ein, als allen Arbeitslosen die Arbeitslosenhilfe zum Arbeitslosengeld II auf Sozialhilfeniveau zu kürzen, damit sie wieder einen Anreiz zur Arbeit haben. Die Arbeitslosen die schon genug gestraft sind, weil sie keinen Job finden, werden auch noch durch Kürzung ihrer Unterstützung bestraft und verhöhnt. Ist das gerecht? Ein Arbeitnehmer, der vielleicht 30 Jahre Arbeitslosenversicherung gezahlt hat, erhält nach einem Jahr nur noch Sozialhilfe! Dafür muss er dann nach der neuen Zumutbarkeitregelung jeden möglichen Job annehmen.
An der Berliner Humboldt Universität soll demnächst eine ganze Fakultät geschlossen werden. Ich stelle mir gerade vor wie Herr Prof. Dr. XXX dann bei Aldi an der Kasse sitzt. Volkswirtschaftlich ungemein effektiv!
Die Lösung für mehr Jobs sollen dann auch noch die Minijobs bringen. Da darf man dann für 400 Euro im Monat arbeiten gehen und stolz berichtet die Bundesregierung, dass seit April 2003 schon mehr als 1.000.000 solcher Jobs geschaffen wurden. Dumm bei der Sache ist nur, dass man schon für seine Wohnung weit mehr als 400 Euro zahlen muss. Essen und Kleidung sind dann ein unerschwinglicher Luxus.
Die Kehrseite der Medaille: Es werden reguläre Jobs vernichtet. Unternehmen werden tariflich Beschäftigte entlassen und dafür 400 Euro –Beschäftigte einstellen. Vorteil für´s Unternehmen: Man spart Steuern und Sozialabgaben. Nachteil für den Staat: Er verliert noch mehr Steuern und Sozialabgaben.
Übrigens: Auch die Zumutbarkeitsregelung vernichtet mehr Jobs als geschaffen werden. Ein Berliner Unternehmen hat schon seine Beschäftigten entlassen und sofort teilweise über ein Subunternehmen wieder eingestellt, natürlich für deutlich weniger Geld. Das, so ist ernsthaft zu befürchten, könnte gängige Praxis werden. Jeder muss ja nun jeden Job für jedes Geld annehmen. Dass ausgerechnet die „S“PD so etwas beschliesst, hätte ich mir nie träumen lassen. Wofür stand doch mal das „S“ im Parteinahmen?

Steuern senken
Steuern senken ist immer gut für die, die sie bezahlen müssen. Ich bin auch nicht böse, wenn ich ein paar Euro mehr im Monat habe. Aber schauen wir mal genauer hin. Die Steuern wurden vom Eingangssteuersatz bis zum Spitzensteuersatz linear gesenkt, d.h. der Normalverdiener (angenommen 30.000 Euro Jahresgehalt) erhält bei 3% Entlastung 900 (75 Eure/Monat) Euro mehr. Bei Spitzenverdienern mit z.B. 500.000 Euro im Jahr machen 3% Steuerentlastung schon 15.000 Euro aus. Wenn man dazu berücksichtigt dass die Maßnahmen der Gesundheits“reform“, Kürzung der Arbeitslosenhilfe und andere Kürzungen vor allem die weniger Verdienenden betreffen, wird sofort klar, dass die Steuerreform in Verbindung mit den anderen Elementen der Agenda 2010 unsozial ist.
Beispiel: 75 Euro Ersparnis stehen 10 Euro Praxisgebühr/Person und Quartal, Erhöhung der Zuzahlung bei Arzneimitteln, Erhöhung der Fahrtkosten, Kürzung der Kilometerpauschale, in Berlin wurden gerade Kitagebühren deutlich erhöht und und und gegenüber. Was bleibt da übrig? Auf jeden Fall ein Minus im Geldbeutel!
Bei diesem Steuerdebakel verzichtet der Staat auf Steuereinnahmen bei den „Besserverdienenden“, die er durch Schulden und Sozialabbau bei den ärmsten der Gesellschaft kompensiert. Ist das noch sozial gerecht?

Bildung fördern
Das ist vor allem eine plakative Forderung. Klingt immer gut und kostet nicht viel, denn die Verantwortung für die Bildung liegt in der förderalen Bundesrepublik leider bei den Ländern und die sparen an der Bildung. Berlin spart gerade 75 Mio. Euro/Jahr für seine drei Universitäten und wird sich demnächst ganze Fakultäten sparen. Interessant in diesem Zusammenhang ist der Vorschlag des Bundeskanzlers zur Einrichtung von Eliteuniversitäten. An der Bildung für die breite Masse wird gespart, für das zahlungskräftige Klientel, denn nur die werden sich die Studiengebühr für Elit-Unis leisten können, werden mit Steuergeldern die Unis finanziert. Irgendwie hatten wir das schon mal im 18. Und 19. Jahrhundert. Ich dachte diesen Zeiten lägen hinter uns, aber nein, sie kommen wieder!

Gesundheits“reform“
Das schlimmste an der Gesundheits“reform“ ist, dass die Demontage des solidarischen Gesundheitssystems auch noch „Reform“ genannt wird. Veränderungen am Gesundheitssystem, die den Namen Reform verdient hätten, gibt es nämlich nicht. Es bleibt dabei, dass über 360 verschiedene Krankenkassen unsere Krankheiten verwalten, eine Kassenärztliche Vereinigung unnützerweise mit abkassiert und sich besserverdienende durch private Versicherung aus der solidarischen und sozialen Verantwortung stehlen können. Begründet wird die Gesundheits“reform“ mit dem Ziel, die Krankenkassenbeiträge zu senken. Klingt erst mal positiv. Aber wie sieht es bei näherer Betrachtung aus. Durch die angestrebte Senkung der Kassenbeiträge erhöhen sich für den gesetzlich Krankenversicherten die Zuzahlungen zu Medikamenten und medizinischen Behandlungen, werden 10 Euro Eintrittsgeld beim Arzt erhoben, müssen Patienten Zahnersatz, Brillen u.a künftig selbst bezahlen.
Besonders interessant ist, dass eine Senkung der Kassenbeiträge Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen entlastet. Die zusätzlichen Kosten müssen aber einzig und allein vom Arbeitnehmer getragen werden. Die Gesundheits“reform“ ist also der Anfang von Ende eines solidarischen Gesundheitssystems. Künftig werden die Lasten mehr und mehr auf die Arbeitnehmer verteilt werden, denn es ist zu befürchten, dass dies erst der Anfang ist.
Betrachten wir das Ganze noch mal auf Euro und Cent. Eine Senkung des Beitrages um 0,5% bringen einem Durchschnittsverdiener (30.000Euro/Jahr) etwa eine Entlastung von 12 Euro/Monat. Diese Entlastung wird schon von der Praxisgebühr aufgefressen, wenn man bedenkt, dass eine Familie aus drei bis vier Personen besteht. Wer schon Zahnersatz und Brillen in Anspruch nehmen musste, weiss auch, dass man mit 12 Euro nicht weit kommt.
Die ganze „Reform“ entpuppt sich als Riesenbetrug. Es gibt keinerlei Anreize für die Wirtschaft und das Gesundheitswesen irgend etwas zu ändern, denn die steigenden Kosten werden ja zunehmend von den Pflichtversicherten getragen. Ganz im Gegenteil sind steigende Kosten interessant für bestimmte Unternehmen. Die Kosten müssen allein von den Patienten getragen werden während die Gewinne im Unternehmen verbleiben.
Ich möchte behaupten, die 10 Euro Praxisgebühr führen nicht zu einer Kostensenkung im Gesundheitswesen, sondern im Gegenteil zu einer Steigerung. Während ich früher beim verstauchten Fuss gleich zu Orthopäden gegangen bin, muss ich jetzt erst zum Hausarzt humpeln, der mich dann zum Facharzt überweist. An meinem Fuss verdienen jetzt also zwei Ärzte. Oder noch schlimmer. Wenn man jetzt Bauchschmerzen hat, versucht man es zunächst mit Pfefferminztee. So kann man die 10 Euro sparen. Wenn dann der Blinddarm raus muss oder der Magen operiert wird ist das mit Sicherheit teurer als ein rechtzeitiger Arztbesuch.
Wir werden uns in Zukunft wieder mehr an zahnlose Menschen im Straßenbild gewöhnen müssen oder an die Oma, die uns bittet den Fahrplan vorzulesen, weil sie keine Brille bezahlen kann.
Danke SPD !

Rente
Bei der sich ändernden Bevölkerungsstruktur leuchtet jedem ein, dass das vor über 100 Jahren beschlossene System der umlagefinanzierten Renten nicht mehr funktioniert. Es muss Änderungen geben, aber welche? Eine zusätzliche kapitalgedeckte Rente ist durchaus sinnvoll und notwendig. Wenn dann aber, wie geplant bei der Auszahlung von Renten- und Lebensversicherungen, die die Voraussetzungen einer Altersvorsorge erfüllen, für die Überschussanteile Krankenversicherungsbeiträge bezahlt werden müssen, ist das nicht gerade ein Anreiz für eine solche kapitalgedeckte Rente. Noch schlimmer ist es, wie kürzlich erst in den Medien berichtet, wenn einem Arbeitslosen die Sozialhilfe mit dem Hinweis gestrichen wird, er möge seine Lebensversicherung, die als Unterstützung seiner Rente gedacht war, kündigen und das Geld erst mal aufbrauchen. Statt Förderung eigener Vorsorge wird hier die Förderung von Altersarmut betrieben. Fazit: Wer Geld fürs Alter spart ist selber schuld und muss im Erstfall sein Gespartes für Butter und Leberwurst ausgeben. Im Alter sind wir alle wieder gleich arm. Diese Praxis steht im krassen Gegensatz zu den blumigen Reden unserer Politiker im Bundestag.
Und die Riester-Rente? Mal davon abgesehen, dass sie derartig bürokratisch aufgebaut ist, dass keiner durchblickt, ist es auch nur eine zeitliche Umverteilung der Kosten. Für die Förderung die ich heute auf ganz eng eingegrenzte (und deshalb meist unattraktive) Produkte erhalte, zahle ich als Rentenempfänger erhöhte Steuern und Krankenversicherungsbeiträge.
Ein mutiger Schritt wäre gewesen, alle Bürger des Landes (Beispiel Bürgerversicherung in der Schweiz) entsprechend ihres Einkommens zu einer Rentenversicherung heranzuziehen. Aber dann wären auch Wohlhabende, die sich eine private Rentenversicherung leisten können, finanziell herangezogen worden. Kann es sein, dass das nicht gewollt ist?

Fazit:
Aus meiner Sicht kann die Agenda 2010 nicht das entscheidende Problem unserer Gesellschaft, nämlich die immer weiter zunehmende Kluft zwischen Armut auf der einen und Reichtum auf der anderen Seite, lösen. Auf der einen Seite nehmen die großen Vermögen in Deutschland von Jahr zu Jahr zu, auf der anderen Seite steigen aber auch von Jahr zu Jahr die Ausgaben für die Sozialhilfe. In Berlin lebt heute jedes dritte Kind in Armut und das in einem Land, das statistisch zu den reichen Ländern der Welt gehört. Aber so ist Statistik nun mal. Sie zeigt nur Mittelwerte und nicht wie der Reichtum im Land verteilt ist. Die Agenda 2010 wird zu einer weiteren Umverteilung des Reichtums von unten nach oben beitragen. Dafür gebührt der „S“PD schon jetzt unser Dank.

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